Das Fraunhofer IPT aus Aachen erarbeitet Konzepte für eine nachhaltige Produktion medizinischer Schutzausrüstung in Deutschland und betrachtet dazu neue, ganzheitliche Produktionssysteme. | Quelle: PantherMedia / Kzenon

Ein webbasierter Leitfaden hilft Unternehmen, ihre Produktion auf medizinische Schutzausrüstung umzustellen. Er liefert Informationen von den nötigen Werkstoffen und Prozessschritten bis hin zur Marktzulassung. Eine Plattform bringt Nachfragende und Anbieter zusammen.

Juni 2020 – Die produzierenden Unternehmen in Deutschland können den Bedarf an medizinischer Schutzausrüstung wie Masken, Kittel und Handschuhe in Zeiten der COVID-19-Pandemie nicht mehr bedienen, da die Herstellung überwiegend nach Ostasien ausgelagert wurde. Um den Bedarf zu decken, müssten Deutschland und Europa deshalb nun eine »Säule der Eigenfertigung« für medizinische Schutzartikel aufbauen, so die dringende Aufforderung von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Aber wie kann es gelingen, Hersteller anderer Güter dazu zu befähigen, kurzfristig Schutzausrüstung zu fertigen, die den hohen medizinischen Standards in Deutschland entspricht? Wie können Unternehmen schnell das fehlende Know-how über Prozessketten aufbauen – von der Rohmaterialbeschaffung bis zur Verteilung am Markt? Zusätzlich stehen die Hersteller vor einem dichten »Normen-Dschungel«, den es zu durchdringen gilt und der viele kleine und mittlere Unternehmen ohne fachkundige Begleitung rasch zu überfordern droht.

Ganzheitliche Produktionssysteme erarbeiten

Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT aus Aachen erarbeitet Konzepte für eine nachhaltige Produktion medizinischer Schutzausrüstung in Deutschland, die auch nach der aktuellen Bedarfsspitze, langfristig wirtschaftlich tragfähig bleiben sollen. Dazu betrachtet das Institut neue, ganzheitliche Produktionssysteme – von der Anlagentechnik über das Supply-Chain-Management bis hin zu neuen und alternativen Geschäftsmodellen. Die Ingenieurinnen und Ingenieure analysieren dafür zum Beispiel verschiedene Business Cases, betrachten ihre Wirtschaftlichkeit und bewerten ihr Risiko. Außerdem nehmen die Aachener den Produktionsbetrieb samt möglicher Schwachstellen mit in den Blick wie Produktions- und Lagerflächen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Schichtmodelle. Gleichzeitig bewerten sie den Markt, den Wettbewerb und nötige Zulieferer.

Rechtliche und normative Anforderungen an den Mund-Nase-Schutz und die Auswirkungen für produzierende Unternehmen | Quelle: Fraunhofer IPT)

Rechtliche und normative Anforderungen an den Mund-Nase-Schutz und die Auswirkungen für produzierende Unternehmen | Quelle: Fraunhofer IPT

Das Fraunhofer IPT hat im Rahmen seines Forschungsprojekts Lifebelt einen webbasierten Leitfaden entwickelt, mit dem Unternehmen ihre Produktion Schritt für Schritt umstellen können. Auch für einfache Vertriebswege sorgt das Fraunhofer IPT gemeinsam mit Partnern. Lifebelt wiederum wurde durch das Sofortprogramm »Anti-Corona« der Fraunhofer-Gesellschaft gefördert.

Webbasierter Leitfaden für neue Prozessketten

Um Unternehmen bei der effizienten und bedarfsgerechten Prozesskettengestaltung für die Herstellung zulassungsfähiger Schutzausrüstung zu unterstützen, entwickelt das Fraunhofer IPT einen intuitiven Online-Leitfaden. Der Leitfaden liefert Unternehmen je nach Produkt individuelle Informationen, nicht nur zu nötigen Werkstoffen, Prozessschritten und Anlagen, sondern gleichzeitig auch in Form einer komprimierten Darstellung der regulatorischen Anforderungen für die Marktzulassung. Der webbasierte Leitfaden lässt sich Schritt für Schritt abarbeiten; er bietet so eine klare Übersicht über die vielschichtigen Informationen. So können sich die Anwender in kurzer Zeit ein umfassendes Produkt- und Prozessverständnis erarbeiten, um die Produktionsketten möglichst effizient aufzubauen ohne Zeit zu verlieren und das Produkt reibungslos zu zertifizieren. Der Online-Leitfaden ist verfügbar unter www.ipt.fraunhofer.de/lifebelt.

Resiliente Produktionskette für Masken erfolgreich erprobt

Wie eine kurzfristige Umstellung der Produktion gelingen kann, hat das Fraunhofer IPT in den vergangenen Wochen im Auftrag der Moss GmbH gezeigt: Gemeinsam mit dem Maschinenbau-Unternehmen IBF Automation GmbH hat das Aachener Institut eine Produktionsanlage für chirurgische Mund-Nase-Schutz (MNS)-Masken in Deutschland aufgebaut. Mit der Anlage lassen sich täglich circa 50.000 MNS-Masken produzieren. Die Planung der Anlage umfasste die Betrachtung der gesamten Prozesskette, von der Lieferung der Vliesstoffe über die Produktion und die Erfüllung der Zertifizierungs- und Zulassungsvoraussetzungen für MNS-Masken bis hin zur Verpackung und dem Versand der Masken. Nach dem Aufbau eines Prototyps der Anlage überträgt das Fraunhofer IPT die Produktion der medizinischen Masken nun auf einen industriellen Maßstab und automatisiert die Maskenproduktion.

Markteintritt erleichtern: Digitale Plattform zeigt Nachfrage und Angebote

Um die hergestellten Artikel bedarfsgerecht zu verteilen und produzierende Unternehmen beim Vertrieb der medizinischen Produkte zu unterstützen, wurde auf dem RWTH Aachen Campus die Plattform www.corona.kex.net entwickelt, die eine professionelle Beschaffungs- und Logistikkette abbildet. Hier können alle deutschen Versorgungshäuser ihre Bedarfe melden. Anhand der registrierten Bedarfe werden dann geeignete Lieferanten ausgewählt, die den Qualitätsanforderungen und gesetzlichen Zertifizierungsansprüchen genügen.
Das Fraunhofer IPT deckt damit auch für eine kurzfristige Umstellung der Produktion alle Schritte ab – von der Materialbeschaffung über den Anlagenbau und die Zertifizierung bis hin zum Vertrieb – ohne dabei die langfristige wirtschaftliche Tragfähigkeit aus dem Blick zu verlieren.

Beitragsbild: Das Fraunhofer IPT aus Aachen erarbeitet Konzepte für eine nachhaltige Produktion medizinischer Schutzausrüstung in Deutschland und betrachtet dazu neue, ganzheitliche Produktionssysteme. | Quelle: PantherMedia / Kzenon


Mehr Informationen

Webseite des Fraunhofer IPT zu produktionstechnologischen Lösungen zur Bekämpfung des Coronavirus

www.ipt.fraunhofer.de/wirvscorona

Lifebelt – Leitfaden zur effizienten und bedarfsgerechten Prozesskettengestaltung zulassungsfähiger Schutzausrüstung

www.ipt.fraunhofer.de/lifebelt

Webbasiertes Bedarfs- und Angebotsregister für Engpassartikel

www.corona.kex.net

Förderer

Das Forschungsprojekt Lifebelt wird durch die Fraunhofer-Gesellschaft im Rahmen ihres Sofortprogramms »Anti-Corona« gefördert.

Ansprechpartner

Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT

Prof. Christian Brecher
Institutsleiter und Inhaber des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen am WZL der RWTH Aachen
Tel.: +49 241 8904 102
E-Mail: christian.brecher@ipt.fraunhofer.de

Dr. Kristian Arntz
Abteilungsleiter Technologieorganisation und -vernetzung
Tel.: +49 174 1902817
E-Mail: kristian.arntz@ipt.fraunhofer.de

Dr. Ramon Kreutzer
Abteilungsleiter Strategisches Technologiemanagement
Tel.: +49 162 1374195
E-Mail: ramon.kreutzer@ipt.fraunhofer.de

Dr. Thomas Vollmer
Abteilungsleiter Produktionsqualität
Tel.: +49 1520 9047921
E-Mail: thomas.vollmer@ipt.fraunhofer.de