Hamburg, 11. Dezember 2023 – Im Rahmen des WGP-Jahreskongresses erhielt Dr. Christoph Hartmann vom Lehrstuhl für Umformtechnik und Gießereiwesen (utg) der Technischen Universität München die renommierte Otto-Kienzle-Gedenkmünze. In Freudenstadt überreichten die 71 Professorinnen und Professoren der Produktionstechnik dem Nachwuchswissenschaftler die Münze für seine bahnbrechenden Forschungen in der Umformtechnik. Seine vielfältigen Arbeiten haben unter anderem einen Paradigmenwechsel in der Erfassung von Materialdeformation und Rissen eingeleitet. Neben seinen Arbeiten zur hybriden Modellierung widmet er sich nicht zuletzt den Wasserstofftechnologien von Morgen.

 

Das Markenzeichen für Hartmanns Forschungen sind seine transdisziplinären Ansätze. Er verknüpft moderne mathematische Werkzeuge und datenbasierte Methoden mit physikalischen Wirkprinzipien, bringt sie mit den technischen Gegebenheiten in Einklang und wendet sie auf komplexe reale Prozesse an. Kurzum: Er denkt Digitalisierung und Künstliche Intelligenz weiter und passt sie an ingenieurtechnische Fragestellungen an. Diese Herangehensweise hat Hartmann eine ganze Reihe erstaunlicher Erfolge und Preise eingebracht.

Trotzdem ist dem jungen Münchner die jetzige Ehrung von ganz besonderer Bedeutung: „Es ehrt mich sehr, dass ich damit in der großen Community der Produktionstechnikerinnen und -techniker sichtbar werde. Meine Forschungen wären allerdings ohne Unterstützung, insbesondere von meinem Doktorvater Prof. Wolfram Volk, nicht möglich gewesen. Es braucht Vertrauen und Bestärkung, wenn man in einem kreativen Prozess neue Wege einschlägt.“

 

Die Dissertation beschreibt einen Paradigmenwechsel

So führte der fachübergreifende Blick auf mathematische Methoden aus dem Bereich Computer Vision Hartmann zu seinem innovativen Einsatz der Optical Flow-Methode (OFM). Der 33-Jährige ersetzte damit in seinen Arbeiten die üblichen optischen Methoden zur Erfassung von Deformationsvorgängen.

Die bislang verwendeten lokalen Block-Matching-Methoden bzw. Korrelationsmethoden weisen deutliche Defizite in der Analyse von Gradienten und Raten (z.B. Dehnraten) sowie im Umgang mit Diskontinuitäten (z.B. Risse) auf. Bei der OFM wird dementgegen ein globales Optimierungsproblem formuliert, um robust und mit hohem räumlichen und zeitlichen Detaillierungsgrad Deformationsvorgänge zu analysieren. „Mit Christoph Hartmanns Methodik ist es nun für Bildsequenzen ganz allgemein möglich, höhere partielle Ableitungen der Bewegung präzise und genau zu erfassen, und dies robust gegenüber Umgebungseinflüssen und Messrauschen sowie ohne aufwändige Probenvorbereitung oder das zusätzliche Aufbringen von künstlichen Auswertemustern“, konkretisiert sein Doktorvater Volk, der den Lehrstuhl für Umformtechnik und Gießereiwesen (utg) an der Technischen Universität München leitet. Damit können Prozesse der Materialdeformation auf neue Art und Weise analysiert werden, wodurch beispielsweise theoretische Erklärungsansätze validiert und verifiziert werden können.

Die Einsatzmöglichkeiten der Methodik sind genereller Natur und gehen weit über die herausfordernde Analyse der Deformationsvorgänge beim Scherschneiden hinaus, die der Preisträger in seiner Doktorarbeit betrachtet hat. Kein Wunder also, dass breites internationales Interesse an diesem neuen Ansatz besteht.

 

Hybride Modellierung als Kernthema

„Ich habe anfangs überlegt, ob ich Mathematik oder Maschinenbau studieren soll – aber ich habe die richtige Entscheidung getroffen“, betont der junge Produktionstechniker. „Trotzdem ist es extrem hilfreich, mathematische und physikalische Denkansätze in die Ingenieurwissenschaften einzubringen – beispielsweise, um ein besseres Verständnis für die Problemstruktur aufzubauen und damit als Ausgangspunkt für die Optimierung von Produktionsprozessen zu nutzen.“

So ist sein aktuelles Kernthema am Münchner utg insbesondere die hybride Modellierung. „Ich möchte ganz generell datengetriebene Methoden sinnvoll mit ingenieurtechnischen Modellierungsansätzen kombinieren, also gewissermaßen das Beste aus der Mathematik bzw. Informationstechnik und den Ingenieurwissenschaften vereinen“, so Hartmann. Seine transdisziplinären Ansätze stoßen auch auf internationalen Konferenzen auf reges Interesse.

 

Den Weg für Wasserstofftechnologien bereiten

Der Forscher denkt auch über die klassischen Fragestellungen der Produktionstechnik hinaus. Am utg baut er derzeit das Fachgebiet „Kryogene Materialprüfung und Anwendung“ auf. „Dieser Bereich soll prüf- und produktionstechnische Lösungen für Probleme auf dem Gebiet der Wasserstoffspeicherung und -beförderung liefern“, schaut Hartmann in die Zukunft. Und die ist bereits greifbar, denn bis Ende kommenden Jahres sollen Prüfstände vor Ort installiert und angeschlossen sein, mit denen beispielsweise Materialien auf ihre Wasserstoffdurchlässigkeit geprüft werden können. „Wasserstoff ist das kleinste aller Moleküle und hat zudem bei Normbedingungen eine sehr geringe Dichte, was eine Speicherung entsprechend schwierig macht. Im Rahmen unserer Projekte erforschen wir einerseits, wie Speichersysteme in Großserienfertigung realisierbar sind, etwa für wasserstoffgetriebene LKW. Andererseits untersuchen wir das Austreten von Wasserstoff aus Speichersystemen unter unterschiedlichen Temperatur- und Lastbedingungen für Luft- und Raumfahrtanwendungen. Das geschieht in engem Austausch mit Partnern aus Forschung und Industrie.“

 

Erste Großserienfertigung der Welt im Fokus

Sogar Archäologen interessieren sich für Hartmanns Forschung. Geschichtsexperten der Münzkunde konnten sich lange nicht erklären, wie die erste überhaupt bekannte Großserienfertigung von statten ging: die Münzprägung der Römer. „Die Kaiser mussten ihre zahlreichen Legionäre mit einer entsprechenden Menge an Münzen zufriedenstellen. Es war aber lange unklar, wie deren Produktion funktionierte. Wurden sie heiß, warm oder kalt geprägt?“, erläutert Hartmann amüsiert. „Unsere metallographischen und experimentellen Analysen haben gezeigt, dass sie warm, also unterhalb der Rekristallisationstemperatur geprägt wurden.“ Diese Neuigkeit fand Eingang in ein archäologisches Fachmagazin und der Kontakt zu den Numismatikern ist seither nicht abgebrochen.

 

Start-ups aus vielfältigen Aktivitäten

Der 33-jährige Forscher kann von vielen Erfolgserlebnissen berichten. Da ist zum Beispiel sein Start-up, das er 2020 mitgegründet hat. Die 3deviation GmbH erstellt für Unternehmen Datenanalysen, Prozessdatenhandling, Modellbildungen aus vorliegenden Prozess- und Sensordaten. Diese Dienstleistung ist entstanden aus einer Vorstudie mit der BMW Group zur Serienfertigung mit additiven Verfahren. Ergebnis war eine datenbasierte Methodik, um robuste Serienprozesse ohne den Umweg über Prozesssimulationen umzusetzen.

Ein weiteres Projekt, an dem Hartmann beteiligt war, ist aCar mobility. Auch daraus hat sich ein Start-up entwickelt, die Evum Motors GmbH, das Elektro-Nutzfahrzeuge mit Allrad anbietet. „Das ursprüngliche Ziel des Projekts aCar mobility war es, Kapazitäten für Produktion, Montage und Reparaturen in urbanen Regionen zu schaffen“, resümiert er. „Ein Teil der Wertschöpfung könnte so selbst in entlegenen Teilen der Welt angesiedelt werden.“

 

Diversität an Hochschulen oft zu eng gedacht

Als wäre das alles nicht genug, engagiert sich der umtriebige Produktionstechniker im Diversity Board der Technischen Universität München. „Ich versuche, ein weiter gefasstes Verständnis für Diversität zu implementieren“, betont er, „denn leider wird das Thema oft auf einfach messbare Größen wie den Frauenanteil reduziert. Aber es steckt sehr viel mehr hinter dem Begriff: unterschiedliche kulturelle Hintergründe, Altersstufen oder auch unterschiedliche Ausbildungswege. An den Universitäten müssen wir offen für unterschiedliche Ausbildungswege sein, also auch für Menschen, die beispielsweise nach einer Berufsausbildung den Weg an die Universität gefunden haben.“

So umfassend sich das alles anhört – Zeit für seine Frau und die drei kleinen Kinder bleibt dennoch. Zweimal Elternzeit war bereits drin und für seinen zweimonatigen Forschungsaufenthalt in Korea hat er die Familie kurzerhand mitgenommen. Nicht zu vergessen der Eltern-Kind-Verein, in dem er und seine Frau sich engagieren. Alle zehn Wochen sind sie dann zweimal mit von der Partie, wenn zwölf kleine Kids drei Stunden lang beschäftigt werden wollen.

Wie Hartmann seine Zukunft sieht? „Ich sehe mich aktuell absolut als Forscher – immer mehr aber auch als Lehrender. Mir wird stetig bewusster, dass wir aktiver den Nachwuchs in unserem Bereich fördern müssen – und dazu zählt insbesondere auch eine gute Lehre und Ausbildung.“

 

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Beitragsbild: Übergabe der Otto-Kienzle-Gedenkmünze an Dr. Christoph Hartmann, 23. November 2023 (von links nach rechts: Prof. Mathias Liewald, Leiter Institut für Umformtechnik Stuttgart, Dr. Christoph Hartmann, Prof. Wolfram Volk, Leiter Lehrstuhl für Umformtechnik und Gießereiwesen München) Quelle: Fotoatelier Ebinger

Bild 2: Dr. Christoph Hartmann, Quelle: Letzel

Bild 3: Rissfortschritt beim Scherschneiden, Quelle: Christoph Hartmann

 

 

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